Percutio
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Stories, Nouvelles, Kurzgeschichten ...

Nimm mich mit

Hülya Yegin-Singer


Ich muss so vier, fünf Jahre alt gewesen sein. Meine Kindheitserinnerungen an Istanbul beziehen sich zumeist auf Geschehnisse auf der Straße: Das Leben spielte sich im Freien ab und es war immer was los. Oft war der erste Gang am Morgen noch im Pyjama zunächst nach draußen, gucken, was abgeht. Und nicht nur die Kinder sah man in Nachtgewändern in den Morgenstunden vor den Hauseingängen. Ich war ein sehr temperamentvolles Kind. Wollte immer in der Jungen-Gang unseres Viertels mitmachen. Aber die waren älter und wollten keine Mädchen. Nur ab und zu, wenn sie einen Spitzel brauchten, um zu sehen, ob die Luft rein ist, haben sie mich zum Spähen ausgesendet. Klar haben sie mich für ihre Zwecke benutzt. Dennoch sah ich mich bei diesen Gelegenheiten als ein Teil von ihnen. Ich war wichtig! Immerhin hing ihre Strafe davon ab, ob ich meine Arbeit gut machte oder nicht. Oft hielten wir während unserer Spiele inne, schauten einem über uns fliegenden Flugzeug nach und riefen im Chor: “Flugzeug flieg, nimm mich mit.“ Das war so ein Ritual, das die jüngsten Kinder von den etwas älteren übernahmen und fortführten. Ich schrie natürlich auch aus vollem Hals. Man musste ja schreien, sonst hätte es das Flugzeug nicht gehört. Geahnt hatte ich natürlich nicht, dass ich schon bald in solch einem Objekt fliegen würde.
Die nächste prägnante Erinnerung spielt sich im Wohnzimmer meiner Großmutter ab. Meine Eltern waren ausgehfertig angezogen. Wir Kinder nicht. Meine Schwester war damals zwei Jahre alt und schlief auf dem Sofa. Meine Mutter streckte mir eine Handvoll Haselnüsse entgegen. Ich begriff in jenem Moment, dass hier etwas Unverzeihliches vor sich ging und die Nüsse das nicht gutmachen würden, was jetzt geschah. Als wäre es erst gestern gewesen, kann ich mich erinnern, wie meine Mutter liebevoll auf mich einsprach, ich aber, aus gekränktem Protest, keine Miene verzog. Meine Eltern waren unterwegs als Gastarbeiter nach Deutschland. Für ein Jahr. Uns Kinder überließen sie unserer Großmutter, die wir sehr liebten. Sie wohnte in einem anderen Stadtteil. Hier besuchte ich dann auch die erste Klasse.
Weil in Deutschland das Geld auf der Straße lag (Allgemeine Annahme der Türken in der Türkei zu jener Zeit), fassten meine Eltern den Entschluss, noch ein bisschen länger zu bleiben. Es wurde beschlossen, dass ich nach Deutschland importiert werden sollte. Ein Onkel von mir brachte mich zum Flughafen, und gab mich in die Obhut eines mir unbekannten Mannes. Nun saß ich im Flugzeug und würde bald meine Eltern wiedersehen. Aber Panik ergriff mich, als ich bemerkte, dass der Mensch, der die Verantwortung für mich trug, eingeschlafen war. Wir würden die richtige Haltestelle verpassen! Da ich damals ein cooles Kind gewesen bin und mir meine Angst nicht ansehen lassen wollte, habe ich jedes Mal, wenn der Mann einschlief, seinen Ärmel absichtlich ein wenig ruppig hochgezogen. Als er dann erschrocken aufwachte, sagte ich ihm unschuldig: “Ich wollte nur nach der Uhrzeit sehen.“ Ich denke, dieser Herr hat nie wieder in seinem Leben jemanden getroffen, den die Uhrzeit so sehr interessierte wie mich. Ebenso irritierte es mich, dass ich die Durchsagen im Flugzeug nicht verstand. Ich ahnte noch gar nicht, dass dies der Anfang von vielem Unbegreiflichen sein würde. Die ersten zwei Monate in Deutschland waren für mich als Kind das Grausamste, was ich je erlebt habe. Meine Eltern gingen arbeiten und schlossen mich in der Zeit in die Zweizimmerwohnung ein. Ich wurde aus dem lebendigen, quirligen, lärmendem Treiben Istanbuls herausgerissen und einsam und verlassen eingesperrt in ein paar Quadratmeter, in einer fremden Umgebung, von meinen mir noch fremden Eltern. Der Schrecken packte mich jeden Tag, wenn von außen die Tür verschlossen wurde. Dann eines Tages fand ich einen Schlüssel in einer Schublade, mit der sich die Wohnungstür öffnen ließ. Die Haustür allerdings nicht. Diese überwand ich, indem ich aus dem Fenster kletterte.

Aber draußen in Deutschland war nicht so wie draußen in Istanbul. Die Straßen in Deutschland waren tot. Keine Kinder, kein Geschrei, kein Lärm. Ein einziges Mädchen kam manchmal auf die Straße und wir spielten zusammen, solange ich unentdeckt aus dem Haus türmen konnte. Ich wusste zu dem Zeitpunkt zwar nicht, dass dieses Mädchen geistig behindert war, aber dass was nicht stimmte, hatte ich schnell gemerkt. Ich habe sie in all der Zeit nur ein Wort sprechen hören: „Eierkopf“. Mein Einstieg in die deutsche Sprache.

Bald schon hatten Nachbarn meine Eltern über meine Ausbrüche informiert. Ich wurde gerügt und musste schriftlich Aufgaben lösen, solange ich auf mich allein gestellt war, damit ich nicht auf dumme Gedanken kam. Zudem wurde die „Oma“, wie die ältere Frau und Vermieterin, die ein Stockwerk über uns wohnte, von allen genannt wurde, beauftragt, auf mich aufzupassen. Das war viel besser als Einsamkeit. Die „Oma“ mischte aus zwei verschiedenen Flaschen ein Getränk, das ich nie zuvor getrunken hatte. Später als Erwachsene, als ich zum ersten Mal Weinschorle getrunken habe, kam der Aha-Effekt: Sie hatte also Alkohol gemixt und damit sich und mich abgefüllt. Die Situation war ja auch nur im Suff zu ertragen. Heute kann ich darüber lachen.

Manchmal ging die „Oma“ in einen Gasthof im Ort und nahm mich mit. Wir aßen dann gemeinsam zu Mittag. Als ich das meiner Mutter mal erzählte, schien sie sehr entsetzt. Sie wollte genau wissen, was ich gegessen hatte. Beim Stichwort „Fleisch“ fiel sie fast in Ohnmacht. Im Gegensatz zu heute liebte ich als Kind Fleisch so sehr, dass ich nach Erzählungen meiner Mutter an keinem gedeckten Tisch Platz nahm, an dem nicht Fleisch serviert wurde. Nun bekam ich eine ausführliche Erklärung darüber, dass ich höchstwahrschlich Schweinefleisch gegessen hätte. Ich sei Moslem und die Deutschen seien Christen. Die Deutschen dürften Schweinefleisch essen und ich nicht. Und da ich nicht wusste, wie ein Schwein aussah, weil in Istanbul keine herumliefen, geschweige denn wie Schweinefleisch von anderen Fleischsorten zu unterscheiden war, wurde mir eingeschärft, auswärts kein Fleisch zu essen. Damit hatten tatsächlich auch erwachsene Türken ein Problem. Eine junge Frau aus Anatolien hatte uns erzählt, dass ihr am ersten Tag ihrer Anreise in Deutschland Fleisch vorgesetzt worden sei. Sie habe eindeutig ein Brathähnchen vor sich gesehen. Aber vor lauter Sorge, es könnte ein Schwein sein, gerade weil sie nicht wusste, wie ein Schwein auszusehen hat, habe sie nichts gegessen und sei hungrig ins Bett gegangen.

Ich musste nicht hungern, aber Fleisch mit „Oma“ war tabu. Nur gut, dass die Eltern nicht wussten, dass sie und ich uns einen hinter die Binde kippten. Sonst hätten sie mir den Umgang mit ihr wahrscheinlich gänzlich verboten. Die alte Dame war schon ein wenig eigen. Obwohl sie eine Toilette hatte, benutzte sie einen Nachttopf. Man musste im Erdgeschoss aufpassen, wenn man den Kopf aus dem Fenster streckte: Sie schüttete nämlich regelmäßig ihren Urin vom ersten Stockwerk in den Garten hinunter. Eine neue und erfreulichere Ära begann für mich, als wir umzogen in eine andere, größere Wohnung. Die Vermieter über uns hatten mehrere Kinder, mit denen ich immer spielen konnte. Auch begann ich mit dem Besuch der ersten Klasse. Erfreulicherweise wohnten wir direkt gegenüber der Grundschule. Nach einem Jahr wurde auch meine Schwester nach Deutschland geholt und wir bekamen noch eine Schwester. Mein Dasein wurde bunter und alles pulsierte wieder. Aber ich merkte bald, dass ich ein differenzierteres Leben im Vergleich zu den anderen türkischen Kindern, von denen es in unserem Ort reichlich gab, führen musste. Erste und wichtigste Regel war, nicht mit türkischen Kindern spielen! Dieses Verbot hatte ich von den Eltern bekommen, damit ich Deutsch lernte. Natürlich ist alles, was verboten ist, interessanter und aufregender. Ich begann, mich ab und zu mit türkischen Kindern heimlich auf anderen Straßen zu treffen. Immer mit kribbelnder Panik, auf frischer Tat erwischt zu werden.
Deutsch habe ich als Kind natürlich schnell gelernt. Meine Mutter gab mir zuhause Unterricht in elementaren Dingen wie dem Zählen auf Deutsch. Als wir bis 19 gekommen waren und die Zahl 20 anstand, sagte sie: „Du darfst jetzt nicht lachen. Es klingt unanständig, aber die Deutschen sagen das wirklich!“ Dann erzählte sie mir von der Endung „-zig“. Das klingt im Türkischen wie „Penis“. Mutter und ich kringelten uns vor Lachen, als wir begannen, ab 20 aufwärts zu zählen.

Während der Text im Zeugnis der ersten Klasse wie folgt lautete: „Hülya ist sehr ehrgeizig und fleißig. Ihre Leistungen sind gut. Ihre mündliche Mitarbeit ist durch mangelnde Deutschkenntnisse nachteilig beeeinträchtigt“, stand bereits in der zweiten Klasse unter der Rubrik „Deutsch“: “gut”. Zusätzlich haben mich meine Eltern zu einer pensionierten Lehrerin aus Hamburg zum Nachhilfeunterricht geschickt und wirklich Unmengen D-Mark bezahlt, damit ich die deutsche Sprache ja auch beherrsche.

So kam es dann zu dem Umstand, dass ich bereits in der Grundschule weit und breit das beste Deutsch unter den Türken gesprochen habe. Dies führte dazu, dass ich in meiner Freizeit als Dolmetscher viel herumgekommen bin. Ob Arztbesuche, Amtsbesuche oder Verkaufsgespräche: jeder konnte mich buchen. Meinen türkischen Schulabschluss (fünf Pflichtjahre) habe ich nebenher in Nachmittagsunterricht auch abgeschlossen. Ganz stolz war ich, als ich vom Türkischen Konsulat eine Belobigung für besondere Leistungen erhalten hatte. Ich Zwerg war ein wichtiges Mitglied der türkischen Gemeinde.
Das wiederum hat mir nicht geholfen, als ein türkischer Junge in der Grundschule Schutzgeld von mir erpresst hat. Und zwar zum Schutz vor ihm selbst. Das heutige Klischee vom Türvorsteher Hakan kommt wohl nicht von ungefähr. Ich frage mich heute, was aus diesem Jungen geworden ist. Ob er bei den „Black Jackets“ Karriere gemacht hat, die in unserer Gegend Schutzgelder erpressen? Jedenfalls drohte er mich zu verprügeln, wenn ich ihm nicht regelmäßig was zukommen ließe. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Ich begann, aus der Geldbörse meines Vaters Kleingeld zu entwenden. Eine Weile konnte ich mich so schützen. Doch irgendwann hat ein türkisches Kind seinem Vater erzählt, ich würde im Gegensatz zu ihm viel Taschengeld bekommen. Der Vater des Kindes fragte dann meinen Vater, warum er mir so viel Taschengeld gebe. Dies ließ meinen Vater hellhörig werden. Er merkte bald, was Sache war, und stellte mich zur Rede. Nachdem ich ihm die Situation erklärt hatte, war er zumindest erleichtert, dass ich nicht aus Habgier gehandelt hatte. Wie das Gespräch zwischen dem kleinen Türken und seinem Vater verlief, weiß ich nicht. Aber er machte ab da einen großen Bogen um mich.

Auch in den späteren Jahren machten die Jungs einen großen Bogen um mich. Während meine türkischen Schulkameradinnen ab 16 aufwärts heirateten und Kinder auf die Welt brachten, drückte ich noch die Schulbank. Sie hatten mir immer wieder erzählt, wenn wieder heiratswillige junge Männer mit ihren Familien angerückt waren, um um ihre Hand anzuhalten. Bei uns Zuhause rückte nie jemand an. Erst mit Anfang dreißig habe ich zufällig erfahren, dass meine Eltern von vornherein jeglichen Anwärtern aus Deutschland oder der Türkei zu verstehen gegeben hatten, sie bräuchten nicht mal auf die Idee kommen. Meine Mutter ist gebürtige Istanbulerin und sie hat ihren Mann auch selbst ausgesucht.

Dennoch wurde ich an einer sehr kurzen Leine gehalten. Manches, was sie mir vielleicht erlaubt hätten, haben sie verboten, da sie in der türkischen Gemeinschaft stark unter Druck standen. Meine Eltern galten bereits als Exoten, weil sie bei ihren drei Töchtern die Bildung an erste Stelle setzten. Meiner Mutter war das irgendwann zu wenig. Sie wollte, dass alle türkischen Mädchen gewisse Freiheiten erlangten. In der Gesamtschule im Nachbarort, in der ich bei den Elternabenden, selbst noch Schülerin, jährlich dolmetschte, hatte sie gemeinsam mit einer deutschen Lehrerin ein regelmäßiges Treffen von türkischen Müttern eingerichtet. Dort wurde dann versucht, Probleme, mit denen türkische Schülerinnen konfrontiert wurden, gemeinsam zu erörtern und zu lösen. Ein Hauptthema war das Schullandheim. Die Mädchen wurden generell nicht mitgeschickt. Durch das Einwirken meiner Mutter konnte doch die eine oder andere Mutter sich erweichen, ihr Mädchen ein paar Tage wegfahren zu lassen. Leider kam es nach etwa einem Jahr zu einem großen Eklat. Im Nachbarort wohnten damals sehr viele orthodox-gläubige Türken. Nun begannen ein paar Männer gegen meine Mutter zu schießen. Sie würde die Ehefrauen gegen ihre Ehemänner hetzen. Sie sei eine Kommunistin durch und durch. Dabei ist meine Mutter eine sehr fromme Frau. Viele Männer haben dann ihren Frauen verboten, zu den Zusammenkünften zu gehen. Daraufhin hat meine Mutter dieses Projekt aufgegeben.

Nicht, dass jetzt der Eindruck entsteht, ich hätte große Freiheiten gehabt. Ich durfte zwar mit 13 ins Schullandheim. Aber als ich 16 war und Paris anstand, wurde der Riegel vorgeschoben. Was sagen die Türken, wenn die Teenager-Tochter für eine Woche in die Stadt der Liebe fährt! Eigenartigerweise war die einwöchige Fahrt mit 18 in die DDR wieder selbsttverständlich. Meine Eltern haben oft widersprüchliche Entscheidungen gefällt. Heute weiß ich, wie stark der Druck der Türken um sie herum war. Doch meine Eltern haben sich in all den Jahren auch weiterentwickelt. Zum Beispiel war es für sie überhaupt kein Problem, meine acht Jahre jüngere Schwester nach ihrem Abitur ein Jahr als Au pair nach New York zu schicken.
Im Ganzen gesehen haben sie alles richtig entschieden. Sie haben drei selbstbewusste Frauen in die Welt hinausgeschickt. Und wir sind ihnen sehr dankbar dafür. Was wollen sie mehr? Naja, mein Vater hätte sich einen türkischen Schwiegersohn gewünscht. Nicht wegen der Herkunft, mehr wegen der Sprache, damit er sich barrierefrei unterhalten kann. Nun, wir konnten ihm bisher nur mit Schwäbisch, Badisch und Persisch dienen.

Wenn ich heute gefragt werde, ob ich mich mehr als Türkin oder Deutsche verstehe, kann ich keine eindeutige Antwort geben. Manchmal überkommt mich eine sehr starke Sehnsucht nach Istanbul. Nach dem Geruch des Wassers, nach dem Horn der Fähren, nach den Rufen des Muezzins, nach den Menschenmassen, der untergehenden Sonne hinter den Silhouetten des Topkap?-Palastes, der Hagia Sophia und der Blauen Moschee, nach dem Wirrwarr von Stimmen, nach dem nie enden wollenden Treiben und nicht zuletzt meinen geliebten Verwandten.
Wenn ich dann aber eine Weile dort bin, saugt mir diese nie zur Ruhe kommende Metropole Energie aus dem Körper und ich sehne mich zurück in den geordneten, ruhigen Schwarzwald und meinen geliebten fleißigen Schwaben. Dann schaue ich schon mal in den Himmel, sehe einem Flugzeug nach und denke: „Flugzeug flieg. Nimm mich mit.“

 

© Huelya Yegin-Singer, 2012
A-F 01. First uploaded 07/03.2012. Updated 13/03/2012.
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‘Nimm mich mit’ was first published in Percutio 2012, Paris, France, in 2012.
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